Der Leidensdruck in den Herkunftsländern führt dazu, dass die Menschen die Lösung für die eigenen und die Probleme der Familie in der Flucht nach Europa suchen. Die Flucht ist eine extrem gefährliche Reise, bei der viele durch Gewalterfahrungen oder lebensgefährliche Situationen eine Traumatisierung erleiden. Der Mensch funktioniert weiter und schöpft Kraft aus der Hoffnung auf Erlösung, sobald das Ziel erreicht wird.

Bei ihrer Ankunft in unseren Städten und Gemeinden erleben hoch motivierte Menschen, mit dem Willen sich eine Zukunft aufzubauen, dass ihre Vorstellungen von einem Leben in Europa der Realität nicht standhalten.

Statt der erhofften Sicherheit sehen sie sich mit einer Bürokratie konfrontiert, die sie nicht verstehen und ohne fremde Hilfe nicht bewältigen können. Das Asylverfahren wird als extrem belastend empfunden, eine Ablehnung führt in die Duldung und damit zu einer ständigen Angst vor einer Abschiebung zurück in die Situation, der sie entflohen sind.

Der Wille, mit der eigenen Hände Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, scheitert oft an Arbeitsverboten, an mangelnden Sprachkenntnissen und an der Tatsache, dass der deutsche Arbeitsmarkt hohe Anforderungen an Qualifikationen erfordert, die sie nicht
besitzen und auch nicht erreichen können. Viele erleben die Deutschkurse als eine Überforderung und scheitern daran.

Der Traum von einer eigenen Wohnung, einem Zuhause, scheitert am Wohnungsmarkt, der sich überwiegend in privater Hand befindet und besonders in Ballungsgebieten stark umkämpft ist.

Statt der erhofften Akzeptanz und Teilhabe begegnet ihnen Ablehnung, Misstrauen, offener und versteckter Rassismus und Ausgrenzung. Sie sehen uns mit gefüllten Einkaufstaschen aus den Läden kommen und mit unseren Autos zu unseren Häusern fahren. Sehen Reisebüros mit Bildern von Traumzielen und Menschen in Restaurants sitzen, Kinos besuchen und Zeit mit Freunden verbringen. Sie selbst sitzen dagegen oft in
Mehrbettzimmern von Gemeinschaftsunterkünften fest, zum Nichtstun verurteilt und einsam, ohne die finanziellen Mittel, die unfreiwillige Freizeit sinnvoll zu gestalten. Auch die Hoffnung darauf, in Freiheit eine Familie zu gründen und Wurzeln zu schlagen erfüllt
sich nur sehr selten.

Die Menschen werden in ihrem Bestreben, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, mit der Ankunft in unserer Mitte nicht unterstützt, sondern ausgebremst, sie finden sich fremdbestimmt und hilflos in Verhältnissen, die sie unglücklich machen und die sie nicht aus eigener Kraft verändern können.

Aus Akteuren werden Hilfsbedürftige, es entsteht ein Gefühl der Ohnmacht, die Flucht kann innerlich nicht enden.

Dies trifft besonders auf Menschen zu, die in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen. Als Gemeinschaftsunterkünfte gelten Unterkünfte, in denen die Personen dauerhaft oder vorübergehend gemeinschaftlich wohnen. Ein typisches Merkmal ist das Fehlen von eigenen Briefkästen. Kochgelegenheiten und Sanitäreinrichtungen sowie Aufenthaltsräume stehen den Bewohnern nicht exklusiv sondern nur gemeinschaftlich zur Verfügung, dadurch entstehen viele Konflikte. Der Schlafplatz wird zugewiesen, oft erfolgt eine Unterbringung in Mehrbettzimmern, wobei man keinen Einfluss darauf hat, wer sein Mitbewohner ist. Ein Umzug kann jederzeit durch die Stadt oder Gemeinde angeordnet
werden, wenn organisatorische Gründe es erfordern.

Ein solches Wohnumfeld ist im hohen Maß fremdbestimmt, oft wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch eine Hausordnung weiter eingeschränkt. Der Empfang von Besuch ist reglementiert, die Bewohner verfügen über keine oder nur eine geringe Privatsphäre, Sexualität kann nicht gelebt werden. Es fehlen Rückzugs- und Ruheräume. Die Wohnung wird laut Bundesverfassungsgericht als „elementarer Lebensraum, der der
persönlichen Entfaltung dient und dem Einzelnen ermöglicht, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen“, definiert. Sie unterliegt nach Artikel 13 GG einem besonderen Schutz, der Unverletzlichkeit der Wohnung, die staatliche Eingriffe begrenzt. Die Wohnung als Rückzugsort soll Geborgenheit und Sicherheit bieten, ein Ort sein, an dem man Ruhe findet.

Auch das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird im Grundgesetz in Artikel 2 GG garantiert. Es gilt der Grundsatz der Autonomie des Subjekts die niemandem das Recht gibt, über das Leben eines anderen zu bestimmen.

Das Deutsche Institut für Menschenrecht kommt zu dem Schluss, dass diese Grundrechte auch für Gemeinschaftsunterkünfte Gültigkeit haben sollten. („Hausordnungen menschenrechtskonform gestalten“ Deutsches Institut für Menschenrechte 10/2018)

„Dass die spezifische migrantische bzw. postmigrantische Lebenssituation einen Moderatoreffekt für den Zusammenhang von sozialer Ausschließung, Armut und psychischer Gesundheit haben kann, bestätigen neuere Studien zur psychischen Gesundheit Geflüchteter deutlich. So konnte gezeigt werden, wie sich unsichere Lebensbedingungen, gesellschaftlicher Ausschluss und das Wohnumfeld auf psychische Belastungen auswirken.“ („Rassismus und psychische Gesundheit“ Der Nervenarzt, Springer Medizin Verlag Prof. Dr. U. Kluge, M. C. Aichberger, E. Heinz, C. Udeogu-Gözalan, D. Abdel-Fatah online Ausgabe vom 15.09.20)

Im Bundesgesundheitsblatt erschien am 25.10.2020 ein Artikel zum Einfluss postmigratorischer Stressoren auf das Vorliegen depressiver Symptome bei Geflüchteten in Deutschland, darin heißt es: „Nicht nur existenzbedrohende Zustände im Herkunftsland und traumatisierende Ereignisse während der Flucht, sondern auch die Lebensbedingungen im Aufnahmeland (können) die psychische Gesundheit von Flüchtlingen beeinträchtigen.“

Folgende postmigratorische Stressoren werden in diesem Zusammenhang genannt:
– familiäre Aspekte
– Diskriminierungserfahrungen
– das Asylverfahren
– sozioreligiöse Aspekte
– die sozioökonomischen Lebensbedingungen, darin enthalten die Wohnverhältnisse
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass postmigratorische Faktoren vor allem zu depressiven Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch führen können. Im Weiteren führen sie aus, dass eine höhere Wohnzufriedenheit in der Untersuchung die
Chancen auf Depressivität messbar verringerte.
(Der Einfluss postmigratorischer Stressoren auf die Prävalenz depressiver Symptome bei Geflüchteten in Deutschland“ Niklas Nutsch, Kayvan Bozorgmehr).

Es sind genau diese Erkrankungen, die wir in unserer Arbeit mit
Geflüchteten seit Jahren zunehmend beobachten. Depression und
psychische Erkrankungen, die Selbstmedikation mit Alkohol und
Drogen, das alles führt zu Weiteren gravierenden Problemen, Schulden,
Straffälligkeit durch Bagatelldelikte wie z.B. Schwarzfahren, körperliche
und seelische Verwahrlosung,

Arbeitsunfähigkeit, Suizid. Es beginnt eine Elendsspirale, aus der es ohne professionelle Hilfe keinen Ausweg gibt. Leider fehlt diese professionelle Unterstützung vielerorts vollkommen.

2017 bestellte der Menschenrechtsrat die kanadische Anwältin Leilani Fahra zur Sonderberichterstatterin zur Frage des angemessenen Wohnens als Bestandteil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard und das Recht auf Nichtdiskriminierung in diesem Zusammenhang.
Auf der 37. Sitzung des Menschenrechtsrat vom 26.02. – 23.03.2018, legte sie ihren Bericht vor, in dem Sie ausführt:

„Die am eigenen Leib erfahrene Obdachlosigkeit und unangemessenes Wohnen verletzen die Würde und sind eine Bedrohung für Leib und Seele, was den Kern dessen, was es bedeutet Mensch zu sein, in Frage stellt. “….„Obdachlose oder in unzureichender Unterkunft lebende Menschen gelten traditionell als Empfänger, Begünstigte oder „Objekte“ von Regierungs- oder Wohltätigkeitsprogrammen. Werden Sie jedoch als Rechteinhaber erkannt, sind sie aktive Personen, die befugt sind, sich an Entscheidungen zu beteiligen, die ihr Leben und die Wahrnehmung ihrer Rechte betreffen.“

Unangemessene Wohnverhältnisse, das Wohnumfeld und die Wohnzufriedenheit haben, wie mehrere Untersuchungen festgestellt haben, Einfluss auf die psychische Gesundheit Geflüchteter. Ist jemand fortgesetzt unangemessenen Wohnverhältnissen ausgesetzt, kann das zur Entwicklung psychischer Erkrankungen und Suchterkrankungen beitragen. Die Unterbringung in Sammelunterkünften darf nur eine kurzfristige Lösung sein. Die
Menschen benötigen kompetente Unterstützung bei der Bewältigung des Lebens in unserer Mitte. Sie benötigen Unterstützung, die sie respektiert und bemächtigt, sie zu Akteuren und nicht zu Hilfeempfängern macht.

Unsere Gesellschaft ist nur so stark wie die Schwächsten in ihr.

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